Winterfahrt nach Venedig

Schön verrückt ist ja immerhin auch schön

geht es mir durch den Kopf, als wir uns in die Schlange der Wintersportfreunde am Grenzübergang Salzburg einreihen. Statt Skier am Dach haben wir unsere Seesäcke im Kofferraum, als Ziel keine gemütliche Skihütte, sondern unsere "Reggae" in der winterlichen Marina Stella.

Ein eiskalter Hauch weht mir in das verschlafene Gesicht, als ich heute früh meinen Kopf aus dem Niedergang stecke. Nach einer wohlig warmen Nacht, durch den mitgebrachten Heizlüfter gesichert, soll es heute losgehen. Ziel Venedig. Der erste Schritt auf Deck endet beinahe im kalten Wasser, denn alles ist von einer dicken Schicht Rauhreif überzogen.

'Daß kann ja heiter werden', denke ich mir, aber ein Blick in den blauen Himmel tröstet mich sofort wieder. Wir lassen es auch gemütlich angehen mit der Abfahrt, und bis wir gegen Mittag langsam aus der Marina in den Fluß hinaus tuckern, hat die Sonne das Deck bereits abgetaut. Die Lagune, sonst von regem Bootsverkehr überzogen, liegt im spiegelglatten Wasser ruhig und verlassen da. Auch nachdem wir, an Lignano vorbei, das offene Meer erreicht haben, regt sich kaum ein Windhauch. So bleiben die Segel vorerst unten und wir genießen die Wärme der tiefstehenden Wintersonne. Die "Reggae" zieht einsam, vom Autopilot gesteuert, ihre Bahn an der Küste entlang. Die wenigen Muschelfischer, denen wir begegnen, mögen sich ihren Teil gedacht haben, wenn wir Ihnen mit dampfendem Glühwein zuprosteten.

Durch die späte Abfahrt bedingt ist Venedig nicht mehr bei Tageslicht zu erreichen. So beschließen wir einen Zwischenstop einzulegen. Da unsere Stimmungslage eindeutig gegen eine Betonmarina spricht, steuern wir den Fischerhafen Cortalezza an. Nach kurzem Suchen findet sich eine Übernachtungsmöglichkeit in der kleinen Werft. In den "Liegeplatz" zwischen Slip und Tankstellensteg schlüpft die "Reggea" wie in einen alten Hausschuh. Ein kurzes Gespräch mit den neugierig herbeigeeilten Werftleuten sichert uns den Platz bis morgen früh.

Die Zeit bis zum Abendessen vertreiben wir uns mit einem Bummel durch das Dorf. Beim lokalen Fischhändler werfen wir einen Blick auf die appetitliche Palette der fangfrischen Ware. Anschließend wandern wir an vernagelten Restaurants und Campingplätzen zum einsamen Badestrand vor und sehen uns den Sonnenuntergang an. Kaum vorstellbar, daß sich hier in einem halben Jahr die Menschen gegenseitig auf die Füße treten und um Sonnenschirme raufen. Zurück im Ort lassen wir uns in der empfehlenswerten Pizzeria ein vorzügliches Essen schmecken und bereiten uns mit ausreichend Rotwein auf eine Nacht ohne Stromanschluß vor. Doch die Angst vor der Kälte erweist sich als unbegründet, denn der Petroleumherd schafft es spielend, die kleine Kajüte auf wohnliche Temperaturen zu bringen. Die vor vier Wochen installierte provisorische Isolierung mit stoffüberzogenen Styroporplatten trägt auch ihren Teil dazu bei. So haben eben auch begrenzte Platzverhältnisse ihre Vorteile.

Das Erwachen am nächsten Tag erfolgt in Etappen, denn bereits gegen vier Uhr früh reißt mich der erste auslaufende Muschelfischer aus dem Schlaf. Und bis das letzte Boot den Hafen verlassen hat, bin ich entgültig wach. So ist das halt mit der Romantik im Fischerhafen. Zu meinem Leidwesen muß ich nach einem Griff an eine ungedämmte Stelle der Bordwand feststellen, daß die Physik wieder einmal recht hat. Alles ist tropfnaß. Die dünne Sperrholzwand ist unter den gegebenen Witterungsverhältnissen ein echter Garant für Kondenswasserbildung. Nach dem Trockenlegen der Kajüte und einem starken Kaffee legen wir wieder unser Zwiebelkostüm an, Unterwäsche zweifach, Faserpelz, ölzeug. Heute meint es das Wetter nicht mehr so gut, denn eine dünne Nebelschicht zieht die Hafeneinfahrt herein.

Aber Venedig lockt, also Leinen los und raus in die Suppe. Das Meer ist recht ruhig und eine leichte Brise läßt uns die Segel setzen. Die Sicht ist noch ausreichend und so fahren wir in Blickweite zur Küste nach Westen, oft nur 2-3 Meter Wasser unter den Kielen. Des öfteren müssen wir Muschelfischern ausweichen, die überall den Meeresboden mit ihren Fangkästen abkratzen. An Steuerbord ziehen die Schemen der verwaisten Betonklötze der Lido-Hotels von Jesolo vorbei, einige der wenigen Landmarken der flachen Küste. Gegen Mittag erreichen wir dann den wuchtigen Leuchtturm auf der Westmole der Einfahrt in die Littorale von Venedig. Die Lagunenmetropole wird aber nicht gleich angesteuert. Wir wollen die Gelegenheit nutzen und auch die Inselstädte Burano und Murano aufsuchen. So biegen wir bei Punta Sabbioni nach rechts ab und fahren den Dalbenweg hoch bis Burano. Dort ist man auf seegängige Besucher in keinster Weise eingerichtet.

Erst eine Rundfahrt um das Städtchen und diverse Kontaktversuche zu den etwas verschlossenen Ureinwohnern läßt uns zwei Pfosten an der Ufermauer ergattern, an denen wir "Reggae" anleinen können. Da die Fahrrinne um den Ort auch die Hauptverkehrsader bildet, ist gutes Abfendern angesagt. Motorboote, Lastkähne und Schuten aller Art sorgen, unbekümmert um Geschwindigkeit und Wellenbildung, für einen bewegten Liegeplatz.

Der Rundgang um den mit Spitzenwarenläden gespickten Hauptplatz ist in 30 Minuten erledigt. Interessanter sind die kleinen Stichkanäle mit ihren knallbunten Häuschen. Sehenswert ist auch der Kampanile der Stadtkirche, der sich hinter dem schiefen Turm von Pisa wahrlich nicht verstecken muß. Die Wintertouristen, die am Nachmittag in begrenzter Zahl die Straßen bevölkert hatten, sind am Abend durch einen weit aus größeren Auflauf an Einheimischen ersetzt worden. Diese genießen augenscheinlich, daß der Ort ihnen jetzt ganz alleine gehört und flanieren trotz Kälte über den Marktplatz. Das einzige offene Lokal, als bestes am Platz gepriesen, erweist sich als böser Reinfall was das Verhältnis zwischen Qualität und Preis der Speisen betrifft.

Nach einer recht unruhigen Nacht brechen wir früh auf, denn wir wollen auf dem Weg nach Venedig noch die "Glasinsel" Murano besuchen. Auf der knapp einstündige Fahrt zeigt sich das Wetter zum letzten Mal von seiner guten Seite. Es ist ein wunderschöner Anblick, wenn die Strahlen der tiefstehenden Sonne die Nebelschwaden über der Lagunenlandschaft durchdringen. Die entfernten Dalbenreihen scheinen zu schweben und eine tiefe Ruhe breitet sich über dem glitzenden Wasser aus.

Fast zu schnell kommt Murano näher. Wie sein Vorgänger zeigt es sich dem Seetouristen abweisend, mehr noch, da die bunten Häuser jetzt durch schmutzige Fabrikfassaden ersetzt sind. Die Glasverarbeitung erfordert offensichtlich mehr Industrie, als das Sticken von Spitzendeckchen. Vorbei ist die Träumerei der nebelverhangenen Lagunenfahrt. Das nahe Venedig erzeugt einen erheblichen Verkehr, der volle Konzentration beim Steuern verlangt. Es gelten keine Regeln mehr, der Schnellere hat offensichtlich Vorfahrt, der Größere sowieso. Wir durchqueren das offene Fahrwasser so rasch wie möglich, um an der ruhigeren Rückseite der Insel unser Glück zu versuchen. Auch hier wieder das beliebte Frage- und Antwortspiel nach einer Anlegestelle. Immerhin sind hier die Leute bedeutend freundlicher als in Burano und so kommen wir recht schnell an der repräsentativen Bürofassade einer Glasfabrik an die begehrten Pfosten. Hier sind sie sogar im Gondel-Look weiß-blau gestrichen. Der obligatorische Rundgang durch das Stadtinnere dauert erheblich länger, da Murano gut drei bis vier Nummern größer als Burano ist. Man möchte nicht glauben, was im Dezember alles an Touristen unterwegs ist. Alle Sprachen sind zu hören und fast alle Läden sind geöffnet. Saison ist hier das ganze Jahr.

Die ersten zehn Geschäfte mit Glaswaren aller Art werden noch intensiv durchforstet, doch langsam verschwimmen die wiederkehrenden Farben und Formen vor den Augen. Ich glaube die Zahl von 100 Glasläden ist nicht übertrieben, die die großen und kleinen Kanäle säumen. Erstaunt hat mich die Größe des Hauptkanals, der sich im Stadtinneren auf gut 150 m Breite ausdehnt. Wenn es mich wieder einmal mit dem Schiff nach Murano verschlägt, dann weiß ich wo ich anlege. Die Abfahrt nach Vendig verzögert sich um eine halbe Stunde, denn der vorwitzige Versuch, beim Umdrehen im Kanal einen Dalben des Fahrwassers zu Umrunden endet im Schlick. Ein hilfsbereiter Arbeiter der nahegelegenen Werft hat unser Mißgeschick beobachtet und zieht uns mit seinem starken Motorboot wieder ins freie Wasser. Mein Versuch mich erkenntlich zu zeigen, wird mit dem Ruf Servizio compreso (Service inbegriffen) abgetan. Bella Italia.

Jetzt geht es aber mit Vollgas nach Venedig. Beziehungsweise zu seinem Hinterhof, da der Anblick der vergammelten und verdreckten Gebäude den üblichen Palazzo-Charme vermissen läßt. Weiter in Richtung Arsenal - wir wollen endlich unser gewohntes Venedig sehen und mit "Reggae" am Dogenpalast vorbeidefillieren. Doch kaum sind wir auf der "richtigen" Seite der Lagunenstadt, wird die See ungemütlich grob, aufgewühlt durch Dutzende von Schiffen aller Größen, die kreuz und quer dahinrasen.

Unser Ziel für die Nacht ist die, laut Hafenhandbuch, neue Marina in Tronchetta beim Industriehafen. Doch dort findet sich weit und breit nichts, was den Namen Marina im Ansatz verdient. Eine Nachfrage bei einem am Kai liegenden Schnellboot der Guradia Financa erbringt auch nur Kopfschütteln. Also wieder zurück das Ganze zum anderen Ende der Stadt in die Marina St. Helena, wo wir wieder so richtig zivilisiert mit Stromanschluß an der heißen Dusche festmachen. Der Nachtspaziergang in Venedig ist anfangs entäuschend, um acht Uhr alle Läden dicht. Aber die Gassen endlich einmal in die Richtung begehen zu können in die man will und nicht dorthin zu müssen wo Menge strömt, entwickelt einen eigenen Reiz. Ein fast menschenleerer Markusplatz wirkt majestätisch, ein Dom im Scheinwerferlicht ohne Touristengewimmel magisch.

Dezembernacht in Venedig. Doch sie ist nicht ganz ohne Leben. Abseits, am Weg vom Zentrum zur Marina, ist eine italienische Straße, quirlig und lebendig mit offenen Geschäften. Keine Touristenfallen sondern richtige Läden mit Gemüse und Pasta, mit bezahlbaren Waren für den täglichen Bedarf. Eine Trattoria in der am Nebentisch Garnelen gepult werden und wo der Sohn des Hauses das Fernsehprogramm bestimmt, verschafft unseren Mägen Genugtuung. Versöhnt mit Venedig kehren wir auf unser Boot zurück. Da wir früh Auslaufen wollen, zahle ich beim Nachtdienst der Marina noch schnell die 30.000 Lire Übernachtungsgebühr für 9 Meter Schiffslänge. Nach der Breite hat er mich ja nicht gefragt.

Wieder ein nebliger Morgen. Noch schnell eine heiße Dusche, der Tag wird lang werden. Wir haben vor, in einem Zug nach Stella zurückzuehren. Das bedeutet 8 bis 10 Stunden Adriafahrt im Winter. Schon die breite Ausfahrt aus der Lagune von Venedig zeigt, was uns erwartet. Zum Nebel gesellt sich Sprühregen und so sehen wir den von der Herfahrt bekannten Leuchtturm (Pagoda) nur noch schemenhaft. Bis Jesolo können wir uns wieder an der Küste im Flachwasser entlanghangeln, dann zwingt uns eine immer stärker werdende Dünung weiter aufs Meer hinaus. Schließlich ist der Landkontakt verschwunden, dafür hören wir im Nebel die Brecher vom Strand her grollen. Nur hinter dem Sprayhood stehend, läßt sich das miese Wetter einigermaßen aushalten. Gottseidank fühlt man sich im Cockpit von "Reggae" sicher und geschützt. Es ist während der ganzen Fahrt kaum Wasser an Deck gekommen. Die Wellen haben mittlererweile gut zwei bis drei Meter Höhe erreicht, (im Wellental waren oft lange nur noch die Kämme zu sehen) und so entschließe ich mich, die gefährliche Küstennähe zu verlassen und einen Punkt, drei Seemeilen vor Lignano, anzusteuern.

Dieser Kurs wird uns weit genug aus jedem Flachwasser heraushalten und zu den Ansteuerungstonnen für den Kurwechsel in die Laguneneinfahrt bringen. Jetzt war allerdings genaues Koppeln Pflicht. Der Wind aus NO (natürlich genau in Fahrtrichtung) ist gottseidank nicht sehr stark und steht quer zur Dünung, die aus SO anrollt. Segeln ist wiedereinmal nicht drin, also keine Abtrifft durch Wind. Dafür halte ich bezüglich Dünung/Strom etwas vor. Also Kurs 70°, Autopilot an und mit 5 Knoten Motorfahrt zum Ziel. Es dämmert bereits und die Sicht wird immer schlechter. Zum Donnern der entfernten Brandung gesellt sich das dumpfe Tuten von Nebelhörnern. Mir kommt der Gedanke beim Start des Törns wieder in den Sinn: "Schön verrückt ist ja immerhin auch schön?". Nach drei Stunden Schiffsschaukeln in der Dünung erwischt Conny die Seekrankheit - und noch mindestens zwei Stunden bis Lignano. Meine Seekartenhülle ist inzwischen schon löchrig vom Zirkel, der jede zurückgelegte Seemeile abhakt.

Mit dem Zeitpunkt zum Kurswechsel ist auch entgültig die Nacht gekommen. Ich hole Conny vom Sterbelager an die frische Luft, vier Augen sehen mehr als zwei, und wir müssen das grüne Leuchtfeuer für die genaue Peilung der Einfahrt in die Laguna di Marano finden. Vergeblich stieren wir in die neblige Nacht - der ausgerechnete Zeitpunkt verstreicht. Ich gebe uns noch 10 Minuten das Leuchtfeuer zu finden, sonst wird umgedreht, Kurs Piran, wieder aufs offene Meer. Ich habe keine Lust blind in die deutlich hörbare Brandung zu geraten, zumal das Benzin langsam knapp wird. Endlich sieht Conny ein - weißes - Blitzlicht. Wir zählen mit: 3 Sekunden Wiederkehr. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß es das zweite, viel landnähere, Leuchtfeuer sein muß. Wir sind am grünen Blitz irgendwie vorbeigefahren - eigentlich kein Wunder bei Null Sicht. Aber im Moment egal, wir fahren bis auf zehn Meter an die nahe Tonne heran und können jetzt genau Kurs Lignano anliegen. Nach einer bangen Zeit, mit Surfritt bis zu 10 Knoten auf den hohen Wellen, fange ich mit dem Suchscheinwerfer endlich einen Dalben der Laguneneinfahrt ein. Von Lignano, sonst horizontfüllend, ist absolut nichts zu sehen. Jetzt nur noch den Pfosten folgen und endlich sind wir im ruhigen Lagunenwasser. Die Stadt ist nur kurz querab aus Nacht und Nebel aufgetaucht.

Das weitere Dalbensuchen in der Lagune macht schon fast wieder Spaß, die Nervenanspannung entläd sich. Als wir endlich den Fluß Stella erreichen, wird der Sprühregen durch Schneetreiben ausgetauscht. Trotz starkem Scheinwerfer sind nicht beide Flußufer gleichzeitig zu sehen. Wenigstens reflektiert die hohe trockene Schilfwand das Licht und so fahren wir dicht am rechten Ufer flußaufwärts. Einige Male schaffen wir eine Kurve nur mit hartem Ruderlegen, vor allem wenn das Schilf mit kontrastlosem Gebüsch wechselt. Auch spielen unsere Augen nicht mehr so richtig mit, die permanente Anstrengung läßt uns schon Gespenster sehen. Ein kurzer Augenblick Unaufmerksamkeit und schon schrammt eine wilde Bromberhecke am Boot entlang. Gott-Sei-Dank, unser geringer Tiefgang verzeiht viel. Dann, nach 10 Stunden Nebelfahrt drehen wir naß und durchfroren in die Flußmarina ein und machen endlich in der heimatlichen Box fest. Eine Duschorgie folgt.

Ein Törn, nicht wie viele andere. "Und wenn wieder, bitte nur noch mit Bikini und Badehose", ein Wunsch von Conny, dem ich nur noch hinzufügen kann, "und bitte mit GPS".

Othmar Karschulin, 1997


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